Wertmass für Qualität: die Speisekarte

1489 sei das Geburtsjahr der Speisekarte. Vor 517 Jahren ist nämlich den Teilnehmern einer fürstlichen Schmauserei in Regensburg ein «Zedel» vorgelegt worden, auf dem Stand, was alles aufgetischt werden würde. Das handgeschriebene Menü erregte insofern Aufsehen, weil man des bis dahin geschätzten Überraschungseffektes enthoben war und seinen Appetit für die «besten Trachten», so nannte man damals die einzelnen Gänge, sparen konnte, wie sich die Herrschaften laut Chronik wohlgefällig zuraunten. Vermutlich hat es früher schon Menükarten gegeben, doch aktenkundig ist halt der «Zedel» von 1489. Speisekarten sind ja nicht nur geschriebene Küche, sondern auch ein geschmackvolles Stück Kulturgeschichte und darüber hinaus ein Wertmass für kulinarische Qualität. Im Essen und Trinken spiegelt sich stets das Zeitgefühl: bombastisch im alten Rom, überwürzt im Mittelalter mit seinen kapitalen Fleischbergen, überladen im Barock, verspielt im Rokoko, aufregend neu im 19. Jahrhundert, dem Geburtstag der Grande Cuisine, opulent nach dem zweiten Weltkrieg, qualitätsbetont und global in unserem Jahrhundert. Naturgemäss hat man als Gast keine Röntgenaugen, um durch Mauern hindurch beobachten zu können, ob der Koch mit frischen Produkten arbeitet oder mit Fertigware. Um das Risiko zu mindern, genügt jedoch ein Blick auf die Speisekarte, denn da gibt es besondere Kennzeichen, die verraten, ob ein Gerechter oder ein Schlamper am Herd steht: – Die Speisekarte ist viele Seiten lang; ein Indiz gegen frisch zubereitete Gerichte. – Standard-Suppen; umfasst das Angebot nur Gulaschsuppe, Bouillon mit Ei, serbische Bohnensuppe, kann man von einer geringen Eigenleistung der Küche ausgehen. – Exotische Namen; wimmelt es von pompösen «Haremstöpfen», «Salat Erotica», «Steak à la Madison Avenue», so ist höchste Vorsicht geboten. Das ist ChichiKüche mit Resteverwertung. Und gibt es nicht einmal zwei Gerichte, die appetitliche Lust machen, sollte man das Lokal entweder gar nicht betreten oder sofort verlassen.