Aceto Balsamico di Modena Tradizionale

Wenn einem die Leute auf Partys erzählen, welche kulinarischen Heldentaten sie wieder einmal mit ihrem Balsamico angestellt haben, handelt es sich meist um industriell erzeugten Essig. Der darf sich zwar «Aceto Balsamico» oder auch «Aceto Balsamico di Modena» nennen, trägt das Qualitätsmerkmal «Tradizionale» jedoch nicht.

 

Unter hundert Franken ist selbst in Modena kaum ein mittelalter «Tradizionale» zu bekommen, und damit es kein Missverständnis gibt: Das gilt für ein hundert Gramm fassendes Flacon mit zwanzig oder dreissig Jahre altem Inhalt. Geringfügig billiger ist der zwölf Jahre alte Balsamico, dem Mindestalter für diesen Klassiker aus Modena. Gegenüber einem 50jährigen Balsamico nimmt sich der zwölfjährige freilich ziemlich halbstark aus, was die Dichte des Aromas und die Finesse des Geschmacks betrifft. Hundert, zweihundert, und mehr Jahre alte Balsamicos sind im Handel kaum zu bekommen – sie werden als private Raritäten gehütet.

 

Ein fünfzig Jahre alter «Aceto Balsamico Tradizionale di Modena» ist dunkel in der Farbe mit goldbraunem Schimmer. Sirupartig fliesst er gemächlich aus dem Fläschchen, angenehm duftend wie alter, mit Rübenmelasse versetzter Wein. Süsses und Saures sind innig miteinander verwoben. Der Geschmack ist mild und zugleich von einer tiefen Aromadichte erfüllt. Alles Grobe hat sich im Laufe der langjährigen Lagerung in den Holzfässchen verflüchtigt, geblieben ist ein geschmacklich reich nuanciertes Konzentrat, das es nicht noch einmal auf der Welt gibt und so kostbar ist wie grosser Wein.

 

Der hohe Preis wird durch die aufwendige Herstellung verständlich. Als Grundstoff dient vorzugsweise der Most aus der weissen Trebbiano Traube. Er wird durch Tücher filtriert und in einem Kessel aus Kupfer oder aus Stahl langsam geköchelt – um die zwölf Stunden und mehr -, bis sich die Flüssigkeit um dreissig bis fünfzig Prozent reduziert hat. Nach dem Abkühlen wird der ambrafarbene Saft zunächst zum Ausruhen in Glasballons gefüllt und danach in Holzfässer, wo er ungefähr ein Jahr lang, infiziert durch Essigbakterien, die das von Haus aus süsse Traubenkonzentrat in Essig umwandeln, in aller Ruhe vergärt.

 

Nun kommt die Zeit der langen Reife in Holzfässern unterschiedlicher Grösse und Zusammensetzung. In seiner Laufbahn durchläuft der Balsamico geruhsam die gesamte «Batteria» aus sechs, zehn und mehr Fässern. Die Reife beginnt im grössten, in der Regel 110 Liter fassenden Bottich und sie endet irgendwann im kleinsten Fässchen, das zwischen zehn und zwanzig Liter misst. Die erste Zeit lagert der künftige Balsamico im Fass aus Eiche oder Kastanie, dann folgen Behälter aus Kirsche, Esche, Maulbeerbaum, auch Wacholder und Holunder. Dabei wird jüngerer Essig immer wieder mit älterem gemischt. Wichtig für die Bildung des Aromas ist zudem, dass die Aceto-Batterien nicht wie Wein im Keller, sondern in kleinen, luftigen Dachkammern stehen, wo sie im Laufe eines Jahres intensiv das klimatische Auf und Ab mitmachen. In der sommerlichen Hitze stöhnt der Balsamico schwitzend vor sich hin, im Winter liegt er still – er beruhigt, wie die Leute in Modena sagen. Diese Wechselbilder fördern im Verein mit dem Verdunsten das sehr dichte Aroma.

 

Jeder Essigmacher hat sein eigenes Rezept zur Herstellung des Balsamico. Der eine bevorzugt bestimmte Hölzer, ein anderer schwört auf die spezielle Anordnung der Fässer. Die einen decken das Spundloch der Fässer mit Gaze ab, andere mit Holz oder Stein. Einig ist man sich, dass letztlich die Harmonie von sauer und süss stimmen muss, wobei es freilich wiederum am jeweils persönlich geprägten Geschmack jedes Essigmachers liegt, ob der fertige «Aceto Balsamico Tradizionale di Modena» nun mehr trocken oder eher süsslich angelegt ist. Es triumphiert die Individualität.

 

 

«Von hundert balsamischen Essigen gleicht keiner dem anderen», bestätigt ein Prüfer des Consortio prodottori balsamico tradizionale di Modena, das jeden Balsamico gewissenhaft prüft, ob er des begehrten Qualitätssiegels würdig ist. Es ist keine Seltenheit, dass nur ein Drittel der eingereichten Balsamicos das Reifezeugnis bekommt. Die anderen müssen zurück in die Fässer oder ohne das «Tradizionale» verkauft werden.